Kapitel 1: Wunderbares Terranerland

froschkonig

Die Welt war bunt. So voller Farben! Noch nie hatte sie so viele Farben auf einmal gesehen! Grün, bunt, glitzerndes Wasser! Marilena stieß einen Jubelschrei aus. Bäume mit saftgrünen Blättern bogen sich weit über das Wasser hinaus. Dahinter Terraner! Sie konnte alles ganz deutlich erkennen. Nur am Rand wurde es etwas unscharf, die Farben begannen zu schillern, die Konturen zu wabern. Und die Geräusche! Möwen schrien, Vögel zwitscherten, eine Familie ging vorbei, sie konnte sie deutlich verstehen. Gesprächsfetzen drangen zu ihr herüber „Julia, stell dich hierhin, … lächle doch mal, … näher zu den Blumen …“ Das kleine blonde Terraner-Mädchen im Tupfenkleid verdrehte die Augen. Mari musste grinsen. Das zumindest kannte sie aus ihrer Welt. Sie traute sich nicht höher zu steigen, oder über Land zu gleiten, falls ihr Experiment schief gehen sollte. Sie schwebte auf der Stelle, gerade so hoch über dem Wasser, dass sie den Weg beobachten konnte und ließ sich von der leichten Brise, die herrschte, nur leicht hin und her schaukeln.
In den Büchern der Terraner über Meerjungfrauen war die Welt unter Wasser fast immer bunt. Die Schulbibliothek hatte ein ganzes Regal voll solcher Bücher. Sie hatte immer über die Fantasie der Autoren gestaunt. In Wahrheit waren die Farben unter Wasser dumpf, das wurde ihr allerdings erst jetzt richtig bewusst. Terraner mit ihren schlechteren Augen sahen ohne künstliches Licht sogar nur Grau- und Brauntöne, das hatte sie in „Terranerkunde“ gelernt. Erst wenige Meter unter der Oberfläche können sie Farben erkennen. Und das auch nur, wenn die Sonne scheint und sie eine Taucherbrille tragen. Sie selbst konnte unter Wasser optimal sehen, aber die Farben waren kein Vergleich zu hier, dieses Leuchten! Sie hatte noch nie so intensives Rot gesehen, wie auf dem Kleid des Mädchens. Und das Grün erst, wie viele unterschiedliche Schattierungen die Blätter hatten!
Natürlich nannten sie sich auch nicht Meerjungfrauen, schon gar nicht wenn sie wie sie weit entfernt vom nächsten Meer lebten. Sie nannten sich Aquarianer. Marilena hatte noch nie das Meer gesehen. Aber bald! Bald! Bald! Wenn die letzten in ihrer Klasse ihre Prüfungstermine rum hätten, ging es los in die Bretagne. Atlantica wir kommen! Viel lieber würde sie allerdings einen Sandstrand entlang rennen können! Dieser Traum würde wohl noch eine Weile warten müssen. Aber irgendwann … Marilena grinste. Sie rechnete sich kaum Chancen aus den strengen Augen der Forelle entkommen zu können. Obwohl …
Heute hatte sie das Gefühl, dass alles möglich wäre, so glücklich war sie mit dem Ergebnis ihres Experiments.
Frau Floretta Forelle war ihre Lehrerin in Numerologie, rund, laut, herzlich, mittelalt, blonde Haare, blaue Augen, graues Flattergewand, buntes Tuch. Von diesen gigantischen bunten Tüchern besaß sie eine riesige Sammlung. Heimlich hatten die Schüler eine Liste dieser Tücher, mit zugehörigen Stimmungen, von Schülergeneration zu Schülergeneration weiter vererbt. Tigertuch: gefährlich reizbar, Regenbogentuch: gute Laune, beste Chancen für Zugeständnisse, Rosa Kringel: verliebt, unberechenbar ... Als kinderloser Dauersingle war sie zusammen mit dem Französischlehrer Monsieur Canari für den Schüleraustausch verantwortlich. Ihr habt richtig gelesen „Canari“: französisch für Kanarienvogel, dünn, groß, zappelig, mit einem sehr extravaganten Kleidungsstil. Forelle hegte eine heimliche Schwäche für ihn, die immer wieder aufflackerte, wenn ihr sonst kein Grund für ihr rosa Kringeltuch über den Weg lief. Sie bekam dann immer diesen verträumten, verklärten Blick, wenn sie ihn sah, der bei ihrer sonst so polternden Art, nicht so unauffällig war wie sie annahm. Leider schien er davon überhaupt nichts mitzubekommen, während die Schüler Forelles Verträumtheit sofort für sich zu nutzen wussten. Marilena grinste, das brachte sie auf eine Idee ...
Trotz des geringen Wahrheitsgehalts liebte Marilena viele der Bücher in diesem Regal, da gab es eine Pop-Up-Version von Andersens „Kleiner Meerjungfrau“, eine Falt- und Schneidekunst, die sie faszinierte.
Dieses Märchen kannte jedes Aquarianer-Kind und die kleine Statue in Kopenhagen war auch für Aquarianer ein Touristenattraktion, allerdings eher um die verrückten Terraner-Touristen zu beobachten, die Schlange standen für ein Selfie mit der Bronze-Meerjungfrau.
Besonders angetan hatten es ihr die Bilder in Benjamin Lacombes Version von „Ondine“, die sie allerdings nicht lesen konnte, da französisch, sehr zum Leidwesen ihres Französischlehrers Monsieur Canari, immer noch ein Buch mit sieben Siegeln für sie war.
Jetzt wo sie die Welt der Terraner mit eigenen Augen sah, kam ihr manches aus den Büchern gar nicht mehr so fantastisch vor. Die Welt der Terraner war unglaublich: bunt, leuchtend, außerdem voller Geräusche und Gerüche! Und auch sie selbst war verwandelt, wie in eine der Geschichten gezaubert.
Entzückt betrachtete Marilena ihren Schuppenschwanz, in der Sonne glitzerten die silbrigen Schuppen in allen Regenbogenfarben. Sie hatte ihn nach vorn ausgestreckt und lehnte mit dem Rücken bequem an dem leicht nachgiebigen glatten Material der ebenfalls in allen Farben schillernden Blase. Sie zog ihren langen Zopf nach vorn, im sonst so langweiligen Braun leuchtete es rötlich und golden. In der Welt der Menschen sah auch sie selbst viel schöner aus. Auch wenn ihr Haar im Vergleich zum weißgoldenen Glänzen des kleinen Mädchens noch immer langweilig war. Hoffentlich bekam Jolanda die Sonne nicht so schnell zu sehen, sie gab jetzt schon so mit ihrer blonden Mähne an. Was das Aussehen von Meerjungfrauen betraf hatten die Terraner ebenfalls eine blühende Fantasie, in ihren Geschichten waren Meerjungfrauen immer schlank und so schön, dass sich jeder sofort in sie verliebte! So ungern sie das zugab, aber die einzige ihr bekannte Aquarianerin, die sie sich in diesen Geschichten vorstellen konnte, war Jolanda. Leider!
Apropos blühend. Mari hätte sich die Blumen, die sie von weitem bewundern konnte, gern näher angesehen. Sie schienen alle für sie vorstellbaren Formen und Farben annehmen zu können. Kein Wunder, dass die Terraner dafür eine eigene Sprache erfunden hatten. In der großen Bibliothek gab es Bücher mit Titeln wie „Sag es mit Blumen“, „Die Sprache der Blumen“ oder “Die Bedeutung der Blumen“. Natürlich hatten sie im Unterricht die Bedeutung von „Vergissmeinnicht“ und „Rosen“ durchgenommen. Aber darüber hinaus schien ein komplexer Code zu existieren, den man beachten sollte, wenn man Blumen verschenkte.
In ihrer Welt war eine Blume ein sehr kostbares Geschenk, so wie alles was aus der Terranerwelt stammt und empfindlich gegenüber Wasser ist. Und natürlich durfte sie die Trockenräume nicht verlassen.
In den Terranerbüchern hatten Meerjungfrauen oft bunte oder auffällig schön gefärbte Haare. Mari seufzte. Schön wärs! Rote Haare waren zumindest hier im Bodenseebereich sehr selten. Farben wie blau waren auch bei ihnen nicht möglich. Die Schuppenschwänze hatten auch meist keine so leuchtenden Farben, waren eigentlich nie türkis oder grün. Wie die meisten Fische hatten sie oft Grau- oder Brauntöne. Namen, die ähnlich wie „Arielle“ klangen kamen auch nur in französischen Gewässern vor, so wie Marielle, das war der Name ihrer französischen Austauschschülerin, die sie wegen der Namensähnlichkeit zugeteilt bekommen hatte. Sie freute sich schon auf ihren Gegenbesuch in der Bretagne, man konnte mit ihr trotz aller Unterschiede und Sprachschwierigkeiten viel Spaß haben. Lachen benötigt keine Übersetzung.
Unter ihr trieb ein Schwan mit schneeweißem Gefieder majestätisch im Wasser, auch er schien sie in ihrer Blase nicht wahrzunehmen. Sehr gut!
Interessiert beobachtete sie die vorbei gehenden Terraner, hauptsächlich Familien und Paare, die Hand in Hand vorbei schlenderten. Sie lauschte den Gesprächsfetzen, die sie dabei aufschnappte, manche in Sprachen, die sie nicht identifizieren konnte. „Menschen“, so nannten sich die Terraner selbst. Da sie sich selbst auch als Menschen betrachteten, sollten sie sie im Unterricht Terraner nennen. Im Alltag nahm das aber keiner so genau, die meisten benutzten trotzdem das Wort „Mensch“. Kein Wunder, wenn man ständig Terranerbüchern las und sich die Erwachsenen oft mehr in der Terranerwelt aufhielten, als in ihrer eigenen. Eine eigene Sprache, oder eigene Ausdrücke würden die Gefahr sich zu verraten erhöhen. Wenn Terraner misstrauisch wurden, mussten Spezialkräfte der Aqua-Polizei ausrücken und das ganze geradebiegen. Die mit diesen Aufgaben betrauten Beamten, die „Vergissmeins“ genossen großes Ansehen.
Bei diesem Gedanken meldete sich Marilenas schlechtes Gewissen, wenn raus kam, dass sie die Tabus überlistete, würde sie furchtbaren Ärger bekommen und wieder mit mehr Tabus belegt werden. Schlimmstenfalls durfte sie den magisch geschützten Bereich nicht mehr verlassen, wie ein kleines Kind, das seine Zwölfer-Prüfungen noch nicht abgelegt hat. Zugegeben, so lange hatte sie ihre Prüfungen auch noch nicht. Erst vor ein paar Wochen hatte sie die Unsichtbarkeits-Prüfung geschafft und damit alle beisammen. Die theoretischen Prüfungen waren leicht. Eine Frage, die die Kommission ihr gestellt hatte, betraf den Umgang mit Souvenirs. Sie wusste, dass man Muscheln, Korallen, oder Steine aus anderen Regionen nicht außerhalb der verborgenen Siedlungen rumliegen lassen durfte. Die praktischen Prüfungen, bei der man die Magie aus den Schuppen ziehen musste, hatten es in sich. Man musste nicht nur notwendige Zauber, wie den Unsichtbarkeits-Zauber, beherrschen, sondern auch unter Beweis stellen, dass man sie über einen längeren Zeitraum und unter Stress aufrecht halten konnte, falls notwendig.
Langsam fingen auch ihre Schuppen an unangenehm zu jucken und zu spannen, es musste schon mehr Zeit vergangen sein, als ihr bewusst war, sie sollte dringend wieder ins Wasser. Außerdem wollte sie bei Juli vorbei und rausfinden, ob deren Tabus entfernt worden waren.
Sie ließ die schillernde, durchsichtige Kugel vorsichtig tiefer sinken und behutsam ins Wasser eintauchen, machte die magische Verstärkung der Seifenblase rückgängig, brachte sie mit ihrem Zeigefinger zum Platzen und dämpfte sorgfältig jedes Geräusch, dass sie beim Eintauchen ins Wasser machte. Außerdem verhinderte sie, dass die Wasserverdrängung sich in sichtbaren Ringen an der Oberfläche zeigte. Sie liebte die Schwerelosigkeit mit der sie sich im Wasser fortbewegen konnte, ihre Schuppen hörten sofort auf zu jucken und zu spannen. Aber sie vermisste schon jetzt das Licht und die Farben. Mit schnellem Flossenschlag schoss sie Richtung Unterwassersiedlung davon.
Am Tag nach ihrer letzten Prüfung hatten ihre Eltern sie zum ersten Mal mit nach oben genommen. Mari war von den Eindrücken überwältigt gewesen, obwohl sie nur mitten im See an die Oberfläche geschwommen waren und den Kopf aus dem Wasser gestreckt hatten. Das Licht und die glitzernde Wasseroberfläche hatten sie tagelang in ihren Wachträumen begleitet. Seitdem war sie schon zweimal heimlich zur Oberfläche geschwommen. Beim letzten mal war sie schon, durch Unsichtbarkeits- und Schalldämpfzauber geschützt, in der Nähe der Insel Mainau herumgeschwommen. So faszinierend es auch war, Terraner zu hören und zu sehen, fand sie es doch zunehmend frustrierend, dass sie nicht viel von der Insel erkennen konnte, wenn sie unten im Wasser bleiben musste. Ihre Zweibeinerprüfung durfte sie frühestens mit 14 bei den Vierzehnerprüfungen ablegen, solange war sie außerhalb der geschützten Bereiche mit einem Tabu belegt, das verhinderte dass sie sich verwandelte.
Wie alle magischen Wesen hatten die Aquarianer ein Faible für Siebener- und Zwölferzahlen. Wobei die Zahlen selbst keinerlei magische Wirkung besaßen, es waren die Aquarianer selbst, die Feste und Altersgrenzen danach richteten und ihnen damit Bedeutung gaben. Mit 7 wurde man eingeschult, wenn eine Schule in der Nähe war, viele wurden allerdings auch zuerst zuhause unterrichtet, oder besuchten ein Internat. Nach Bestehen der Zwölferprüfungen, zu denen man zwischen seinem 12. und 13. Lebensjahr zugelassen war, durfte man ein Schuljahr lang ins Camp. Aquarianer, die diese Prüfungen nicht bestanden, konnten, aufgrund der nicht entfernten Tabus, die geschützten Bereiche, das heißt die Siedlungen oder Internate nicht verlassen. Das Risiko einer Entdeckung galt als zu groß. Auch nach den Vierzehner-, Siebzehner- und Einundzwanzigerprüfungen konnten Tabus entfernt werden.
Im Herbst war es soweit, Marilena und Julimarie durften endlich in ihr erstes Camp-Jahr aufbrechen. Fast alle dreizehnjährigen Aquarianer aus ganz Mitteleuropa würden sich dort treffen. Wo das Camp stattfinden würde war allerdings, wie jedes Jahr, noch ein großes Geheimnis. Marilena fieberte dem Ereignis entgegen und war unendlich erleichtert, dass sie nicht alleine fahren würde. Juli hatte ihre Unsichtbarkeitsprüfung vorgestern im dritten Anlauf geschafft, sie war jedesmal so aufgeregt gewesen, dass sie in der Nacht zuvor kein Auge zugebracht hatte. Deshalb hatte sie Mühe gehabt sich zu konzentrieren und ihren Unsichtbarkeitszauber konstant zu halten, was ihr in Übungsstunden nie schwer gefallen war. Nachdem sie während der zweiten Prüfung, bei einer simulierten Flucht vor einem Motorboot, wieder kurz sichtbar geworden war, hatte sie schon befürchtet daheim bleiben zu müssen und war zunehmend panischer geworden.
Vor dem Campjahr stand allerdings noch der Schüleraustausch an, dann die Sommerferien.
Die Idee mit den magisch verstärkten Seifenblasen war Mari am Tag zuvor beim Haarewaschen gekommen. Einseifen ging besser im Trockenbereich. Beim Aufschäumen des Shampoos kann man sich herrlich die Zeit mit Seifenblasen vertreiben. Schon früher hatte sie die schillernden Blasen magisch vergrößert und verstärkt, so dass sie nicht so schnell zerplatzen. Gestern hatte Mari sich zum Spaß eine der Blasen übergestülpt und war damit ein Stück geschwebt. Als ihr wieder Julis Konzentrationsprobleme einfielen, kam sie auf die Idee die Blasen magisch unsichtbar zu machen und mit Schalldämpfern zu versehen. Sie konnte sich selbst im Spiegel nicht mehr sehen und obwohl sie aus Leibeskräften gebrüllt hatte, war ihre Mutter nicht angestürmt gekommen. Man musste für diesen Zauber zwar am Anfang etwas mehr Energie aufwenden, konnte ihn dann aber mit weniger Konzentration aufrecht erhalten, als den normalen Unsichtbarkeitszauber. Und man konnte fliegen, wie die Menschen mit ihrem Zeppelin, den sie vom Wasser aus gesehen hatte.
Sie hatte sich in der Bibliothek darüber schlau gemacht. Seit sie den Fragezauber beherrschte war das viel leichter. Man musste eine Frage stellen, solange die Frage unbeantwortet im Raum hing, musste man sie magisch in Leuchtmagie einhüllen. Sofort begannen alle Bücher die Antworten auf diese Frage enthielten zu leuchten, nahm man das Buch zur Hand, leuchteten nur die Seiten, die Antworten enthielten. Leider verriet einem dieser Zauber noch nichts über die Qualität der Antworten, außerdem war die Auswahl manchmal einfach viel zu groß. Aber im Falle des Zeppelins war sie fasziniert von Luftaufnahmen, Gasen leichter als Luft und ihrer Gefährlichkeit bzw. Ungefährlichkeit. Libelle wäre froh wenn sie nur einmal so viel Interesse für Stoffe in Aquakunde hätte aufbringen können. Da die Gesundheit der Aquarianer stark vom Zustand der Gewässer abhängig war, erwartete Libelle von jedem Aquarianer-Teenager selbstverständliches Interesse für Zusammensetzung und Reinigung von Flüssigkeiten. Und natürlich wurde er in dieser Annahme ständig von seinen Schülern enttäuscht. Der grauhaarige Aquarianer ereiferte sich regelmäßig über den sorglosen Umgang der Terraner mit ihren Gewässer und der Ignoranz seiner Schüler gegenüber dieser Thematik. Sollten sie doch ihre Atemluft verschmutzen, aber die Flüsse der chinesischen Aquarianer mit ihren Textilfarben verschonen und die Meere nicht mit Plastik zumüllen . Und seine Schüler sollten sich gefälligst dafür interessieren wie man das ganze wieder sauber kriegt, schließlich hinge ihr Überleben davon ab.
In den Sommerferien wollten Marilenas Eltern mit ihr und Juli nach Dänemark, jetzt wo die Tabus entfernt worden waren, konnten sie endlich zusammen ans Meer! Julis Mutter Sofiana konnte nicht weg, da ihr kleiner Bruder Stefanio noch mit allen Tabus belegt war, er war erst drei. Marilena würde das Meer allerdings schon vorher zu Gesicht bekommen. Sie würde endlich Marielle besuchen!
Im Schutz des Schilfgürtels streckte Mari den Kopf ohne Tarnzauber aus dem Wasser und schloss die Augen, die Sonnenstrahlen auf der Haut waren ein unglaubliches Gefühl. Staunend nahm sie wahr, dass es trotz der geschlossenen Augen nicht dunkel war, sie sah ein warmes rotes Licht. Plötzlich verschwand das warme Streicheln auf ihrer Haut und es wurde dunkel. Sie öffnete die Augen und sah ein Gebilde aus dunklen Wolken am Himmel, ein Drachenmonster, dass die Sonne zu verschlingen schien. Seufzend tauchte sie unter, sie musste sich dringend auf den Weg machen, bevor ihr Fehlen jemandem auffiel.
Schon näherte sich Mari der unsichtbaren Schutzbarriere hinter Sofis Wassergarten. Die Schutzzauber verursachten ein leichtes Kribbeln auf ihren Schuppen, dann war sie schon hindurch. Ein zufriedenes Grinsen breitete sich in ihrem Gesicht aus, es war immer noch unfassbar, dass sie sie jetzt einfach so durchqueren konnte. Früher war sie immer abgeprallt, wenn sie aus versehen an die Barriere geraten war. Sie durchquerte das Tor zu Sofianas Garten. Wie der hüfthohe Zaun, bestand es aus knorrigem Treibholz in dem man mit ein wenig Fantasie alle möglichen Gestalten und Tiere erkennen konnte. Am höchsten Teil des Tors meinte Marilena immer ein verschmitzt grinsendes Gesicht zuerkennen. Der Zaun war überall mit Ketten aus Muscheln und kleinen Steinen verziert. Im Garten türmten sich Figuren aus Steinen und Holz, dazwischen hatte Sofiana Wasserkräuter und Wassergemüse angepflanzt. Es gab aber auch Pflanzen, die einfach nur hübsch aussahen. Die meisten Aquarianer hatten bei ihren Häusern Beete angelegt, in denen sie essbare Pflanzen zogen. Aber einen so wildromantischen Wassergarten hatte nur Sofiana. Manche der Erwachsenen bewunderten ihn, viele hielten Sofiana aber auch einfach für ein bisschen verrückt. Sie liebte die Gärten der Terraner und verbrachte ihre Freizeit gern in Gärten rund um den Bodensee, die sie als Zweibeiner besuchte. Ganz besonders schwärmte sie von Ausflügen auf die Insel Mainau. Zu Marilenas frühesten Kindheitserinnerungen gehört, wie Sofiana mit leuchtenden Augen von Narzissenwiesen, der Rosen- oder Dalienblühte schwärmte, während sie Juli und Marilena in Julis Zimmer ins Bett steckte und die Decken über ihnen ausbreitete. Juli wollte dann immer wissen, welche Farben der bepflanzte Pfau und die Entenfamilie gerade haben. Beim nächsten Besuch wollte Marilena unbedingt so hoch fliegen, dass sie nachschauen konnte. Nach den leuchtenden Farben der oberen Welt kam ihr Sofianas wunderbarer Garten, den sie so sehr liebte, mit einem mal seltsam blass vor.
Ihre Eltern hatten sich schon immer in der Betreuung von den Beiden abgewechselt. Bis sie mit sieben in die Schule kamen, haben sie fast immer im selben Zimmer geschlafen, entweder in Julis oder in Marilenas. Seitdem haben sie Betten im Mädchenschlafsaal der Schule, wenn ihre Eltern daheim sind, schläft aber jede von den beiden am liebsten allein im eigenen Zimmer. Auch weil es eine größere Freiheit bedeutet, wenn man sich nach dem Unterricht von der Schule abmelden kann. Die Schlafzimmer der Aquarianer sind immer Trockenbereiche, natürlich die Bibliothek und andere Räume in denen wasserempfindliche Terranerdinge aufbewahrt werden, der Rest ist in den Wohnräumen Geschmackssache.
Nach wie vor verbringt Mari viel Zeit bei Sofiana, manches bespricht sie lieber mit ihr, als mit ihrer eigenen Mutter, auch wenn ihr eine innere Stimme dann immer versucht ein schlechtes Gewissen einzureden. Mama-Sofi, wie sie sie manchmal noch nennt, fällt nicht so schnell ein Urteil, wie ihre eigene Mutter und ist oft auch für unkonventionelle Ansichten und fantasievolle Lösungen gut. Wenn sie die Erlaubnis bekam würde sie Sofi und vor allem Juli nachher besuchen, um zu hören wie es mit den Tabus gelaufen war. Jetzt musste sie erst mal zusehen, dass sie rechtzeitig zum Abendessen da war, sonst würden ihre Eltern sicher nicht ja sagen.
Sie verlässt den Wassergarten durch den zweiten Durchgang und nähert sich mit schnellem Flossenschlag dem grünen Tor im dichten Maschendrahtzaun um ihr Zuhause.

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